Die Völker- und europarechtlichen Verpflichtungen der Schweiz, in ihrem Landesrecht gewisse Normen zu schaffen oder abzuändern, sind in den letzten Jahrzehnten wesentlich zahlreicher geworden und haben sich qualitativ gewandelt. Das moderne Völkerrecht enthält eine Vielzahl teils sehr präziser Normsetzungsaufträge, deren Umsetzung häufiger als früher durch überstaatliche Überwachungsorgane überprüft wird. Die Frage, wie die Schweiz innerstaatlich auf eine Unterlassung der Umsetzung reagieren kann, ist jedoch ungelöst.
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Der Umgang mit der unterlassenen Umsetzung von Normsetzungsaufträgen ist in einem föderalistischen und von direkt-demokratischer Mitsprache geprägten Staat mit strukturellen Herausforderungen verbunden, da oftmals mehrere Gesetzgeber einen Normsetzungsauftrag umzusetzen haben und die Rechtsetzung ein inhärent politischer Prozess ist. Was soll z.B. geschehen, wenn sich ein kantonaler Gesetzgeber weigert, einem überstaatlichen Normsetzungsauftrag Folge zu leisten? In einem ersten Schritt gilt es, eine abschliessende Definition der unterlassenen Umsetzung von völker- und europarechtlichen Normsetzungsaufträgen zu erarbeiten. Zweitens sind die vorhandenen rechtlichen Konformitätssicherungsmechanismen im schweizerischen Landesrecht zu systematisieren und zu analysieren. Drittens werden diese mit den Nachbarstaaten Deutschland und Österreich sowie mit der Europäischen Union verglichen. Basierend auf den gewonnenen Ergebnissen folgt viertens die Ausarbeitung von Massnahmen, die es ermöglichen sollen, Konstellationen unterlassener Normsetzung zu verhindern bzw. zu bewältigen. Die Relevanz der Fragestellung zeigt sich in den gegenwärtigen Kontroversen zur landesrechtlichen Umsetzung des Völker- und Europarechts, sowie beispielsweise in Bezug auf die in der Schweiz nach wie vor umstrittene, völkerrechtliche Lehre von menschenrechtlichen Schutz- und Gewährleistungsansprüchen. Dies gilt umso mehr für die Schweiz als monistisches und mehrstufiges Rechtssystem, in dem internationale Normen häufig nicht als direkt anwendbar, sondern als Anweisungen an die Normsetzer auf den verschiedenen Stufen aufgefasst werden. Unterbleibt die geforderte Normsetzung, braucht es Antworten, die auf die Vielfalt der unterschiedlichen Interessen und Verfassungsziele im schweizerischen Rechtsstaat Rücksicht nehmen und es der Schweiz erlauben, völkerrechtswidriges Unterlassen zu vermeiden.
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