Gegenstand des Forschungsprojektes ist diemusikalische Interpretationspraxis des 19. Jahrhunderts. Insbesondere die Vortragsnormenund Improvisationselemente dieser Zeit sollen erforscht und in diesemZusammenhang auch klanglich realisiert werden. Im Mittelpunkt des Forschungsprojekts stehtdie Auswertung der so genannten „instruktiven Ausgaben“, die ein wichtigesZeugnis der akademisch-professionellen Musikpraxis des 19. Jahrhundertsdarstellen. Von gewöhnlichen Notenausgaben unterscheiden sie sich darin, dassnicht nur der Notentext mit detaillierten Vortragsbezeichnungen angereichertist, sondern dass die meist berühmten Herausgeberinnen und Herausgeber (z.B.Louis Spohr, Clara Schumann, Hans v. Bülow) darüber hinaus einen sprachlichenKommentar beigefügt haben, der teilweise mehr als die Hälfte der jeweiligenDruckseite einnimmt. Zur Interpretation klassischer Musikstücke schreibt beispielsweiseLouis Spohr 1833, es komme nicht darauf an, „seine Virtuosität zu zeigen,sondern die Idee des Componisten ins Leben zu rufen.“ Obwohl wir uns dieNaivität, von der ‚Intention eines Autors‘ zu sprechen, heute nicht mehrleisten können, zeigen instruktive Ausgaben immerhin, was Interpretinnen undInterpreten des 19. Jahrhunderts für die „Idee des Komponisten“ hielten undwelche unterschiedlichen Mittel sie dazu wählten, diese „ins Leben zu rufen“. Bisher stützte sich die Forschung zurInterpretationspraxis des 19. Jahrhunderts auf zwei Quellengattungen, die nurschwer miteinander in Beziehung zu setzen sind: zeitgenössische Abhandlungenüber den „musikalischen Vortrag“ und frühe Tonträgerdokumente. WährendTextquellen oft sehr allgemein gehalten sind, dokumentieren früheTonaufzeichnungen sehr individuelle Interpretationsentscheidungen. InstruktiveAusgaben überbrücken diese Kluft, denn sie versprachlichen musikalischeEntscheidungen an einem konkreten Notentext. Dennoch sind diese Ausgaben wegenihrer praktischen Orientierung und stilistischen Verjährung kaum mehr inöffentlichen Bibliotheken zu finden, so dass sie als Quellen häufig neu erschlossenwerden müssen. Durch die Auswertung von Instruktiven Ausgabenkann die bereits im 19. Jahrhundert existierende Vielfalt derInterpretationsansätze wissenschaftlich exakt beschrieben werden. KonkreteMerkmale einer Interpretation lassen sich durch einen Abgleich vonschriftlichen Interpretationsanweisungen mit zeitgenössischen Vortragslehrenhistorisch angemessen benennen. Dies trägt möglicherweise auch zur Ausbildungvon Kriterien für die aktuelle empirische Tonträgerforschung bei, indemInterpretationsmerkmale eines frühen Tonträgerdokuments im Einzelfall als intentional,unreflektiert, zufällig oder sogar missglückt klassifiziert werden können. Ineinem empirischen Forschungsbereich sollen spezialisierte Forschungsensemblesdie schriftlichen Instruktionen klanglich wiederbeleben. Dabei soll derGebrauch historischer Ausdrucksmittel, wie sie auch von frühenTonträgerdokumenten bekannt sind, neu erlernt und in beispielhaftenMusikproduktionen veröffentlicht werden. An der Schnittstelle von textorientierterMusikwissenschaft und klangorientierter Interpretationspraxis soll eineneuartige Forschungsrichtung namens „angewandte Interpretationsforschung“etabliert werden, die einen hohen interdisziplinären Mehrwert verspricht.
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