Ziel des kriminologischen Projekts ist die Erforschung der theoretischen und empirischen Zusammenhänge zwischen Protokollierungsmethoden und richterlicher Urteilsfindung im Rahmen von Strafverfahren. Gerade der Protokollierung der Vernehmung, welche als „Herzstück der Ermittlungsarbeit“ gilt, kommt im Rahmen der gesetzlichen Dokumentationspflicht grosse Bedeutung zu. Ausgehend von dieser zentralen Dokumentationspflicht und der spezifischen Scharnierfunktion, die die Einvernahmeprotokolle einnehmen zwischen der staatsanwaltschaftlichen Untersuchung und der freien Beweiswürdigung der Richterinnen und Richter, ist das Forschungsinteresse hauptsächlich auf die Herstellung von Protokollen sowie den Umgang damit und ihre Wirkung im Rahmen der richterlichen Beweiswürdigung gerichtet. In der Schweiz wird vornehmlich schriftlich protokolliert. Verschiedene Untersuchungen haben aber gezeigt, dass Schriftprotokolle mit verschiedenen Mängeln behaftet sein können: Auslassungen, Ungenauigkeiten/Anpassungen, um ein widerspruchfreies, „gut lesbares“ Protokoll zu erhalten, fehlerhaften Interpretationen, den Sinn verändernden Zusammenfassungen etc. Hinzu kommt, dass die Hürde für die Gerichte relativ hoch zu sein scheint ein Einvernahmeprotokoll erstens als mangelhaft zu bewerten und ihm zweitens gar den Beweiswert aufgrund dieser Mängel ganz abzusprechen. Mangelhafte Protokollierungen verfälschen jedoch sehr leicht die Urteilsbasis massiv und können damit geradewegs zu Justizirrtümern führen. Die Bedeutung der Einvernahmeprotokolle steigt zudem, wenn beispielsweise Zeugen nicht mehr unmittelbar vom Richter gehört werden, sich dieser nur noch auf der Grundlage des Protokolls „ein Bild“ macht. Das trifft auf alle Verfahrensformen zu, die - in Abkehr vom klassisch zweigeteilten Strafverfahren hin zu vereinfachten Formen (Strafbefehlsverfahren, vereinfachte Verfahren) bzw. der generellen Durchführung von Aktenzirkulation - keine direkte richterliche Befragungsmöglichkeit vorsehen. Manche Befürworter sehen in der audiovisuellen Aufzeichnung eine gute Alternative zum Schriftprotokoll, weil damit der Informationsverlust – der empirisch belegt ist – bei der schriftlichen Protokollierung verhindert werden kann; zudem verringert sich das Risiko von Fehlurteilen in Form von falschen Freisprüchen aufgrund von Zeugenaussagen, die vor Gericht anders gemacht werden als bei der polizeilichen Einvernehmungen und deshalb als unglaubwürdig gelten. Allerdings ist bei Videoaufzeichnungen bis heute ungeklärt, wie mit informellen Gespräche und nicht aufgezeichneten Gesprächssequenzen umzugehen ist. Weiter gilt es die Tatsache zu berücksichtigen, dass Videoaufnahmen selbst in Rechtsordnungen, in welchen sie generell gesetzlich vorgeschrieben sind, von den Gerichten sehr selten verwendet werden. Stattdessen scheint wiederum die schriftliche Zusammenfassung des Aufzeichnungsinhalts von enormer Bedeutung zu sein. Für sie spricht in der Praxis offenbar die Tatsache, dass ihre Lektüre wesentlich weniger Zeit in Anspruch nimmt als die Visionierung der entsprechenden Videobänder. Das Projekt umfasst eine empirische Erhebung des Status quo der Protokollierungsweisen in der Schweiz, wie sie vor der Einführung der neuen eidgenössischen Strafprozessordnung geherrscht haben und wie sie drei Jahre nach der Einführung der neuen eidgenössischen Strafprozessordnung allenfalls geändert wurden: Die Art und Weise der Protokollierung steht traditionell im weitgehenden Ermessen kantonaler Behörden. Verlangt wird nun nach neuer eidgenössischer Regelung lediglich, dass Aussagen „laufend“ und in der Verfahrenssprache zu protokollieren sind (Art. 78 Abs. 1 und Abs. 2 StPO). Immerhin sind „wesentliche“ Aussagen „soweit möglich“ in der Sprache der einvernommenen Person und zudem „entscheidende“ Fragen und Antworten wörtlich zu protokollieren (Art. 78 Abs. 2 Halbsatz 2 und Abs. 3 StPO). Laut Botschaft zur eidgenössischen Strafprozessordnung sei in der Schweiz die Praxis üblich, dass Fragen und Antworten grundsätzlich nicht wörtlich, und auch die Praxis, dass ohne Wiederholung der Frage nur die Antwort oder zusammenfassend mehrere Antworten protokolliert werden. Dabei hängt der Beweiswert eines Protokolls entscheidend davon ab, dass und wie Fragen und Vorhalte mitprotokolliert werden. International ist ein steigendes Interesse an der Überprüfung verschiedener Einvernahmedokumentationsarten und ihrer Wirkungsweise zu verzeichnen. Neben dem Studium dieser relevanten Forschungen, werden im Rahmen des eigenen Projekts mögliche unterschiedliche Auswirkungen auf den Verfahrensausgang mittels eigener sozialwissenschaftlicher Experimente untersucht. Dabei wird die Videoaufzeichnung mit verschiedenen Arten von Schriftprotokollen verglichen. Damit werden Erkenntnisse gewonnen und eine Faktenbasis geschaffen für zukünftige Gesetzesrevisionen und Aus- und Weiterbildungen von Angehörigen der Justiz und der Polizei.
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